Der gesunde, selbstverantwortliche Umgang mit Grenzen ist für die meisten Menschen ein lebenslanger Wachstumsweg. Grenzen sind etwas sehr individuelles, also von Mensch zu Mensch verschieden. In der Interaktion miteinander stoßen wir ständig an die Grenzen anderer Menschen oder sind gefordert die eigenen Grenzen wahrzunehmen, mitzuteilen, zu verteidigen oder zu verschieben.
Wie gut kannst du deine eigenen Grenzen wahrnehmen? Fällt es dir schwer, anderen Menschen klare Grenzen zu setzen? Fühlst du dich dadurch häufig frustriert oder verletzt? Hast du ein gutes Gespür für die Grenzen anderer Menschen? Kannst du die Grenzen anderer achten und respektieren oder fühlst du dich dann schnell zurückgewiesen oder abgelehnt.
Wenn wir Grenzen setzen, dann teilen wir anderen Menschen in unserem Umfeld mit, was uns zu weit geht und was wir nicht bereit sind, zu tolerieren. Wir stecken also ein Gebiet ab, in dem wir uns selbst wohlfühlen und in dem wir nicht verletzt werden können, das kann uns wiederum dabei helfen, unser emotionales Wohlbefinden zu wahren.
Warum fällt es vielen Menschen so schwer, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und mitzuteilen? Hier bekommt die eigene Prägung eine große Bedeutung, also wie habe ich gelernt mit Grenzen umzugehen.
Sich selbst Grenzen zugestehen
In der Kindheit machen viele Menschen grenzverletzende Erfahrungen. Erfahrungen, in denen ihre Bezugspersonen ihre Grenzen nicht respektiert und geachtet haben. Durftest du als Kind Grenzen haben? Durftest du Nein sagen und wurde dieses Nein wirklich respektiert?
Hinzu kommt, dass es in vielen Ländern nicht selbstverständlich ist, dass Menschen ihre Grenzen insbesondere bzgl. ihrer Sexualität vertreten dürfen, also selber bestimmen dürfen mit wem, wann und wie sie diese ausleben möchten. Frauen und quere Menschen sind davon verstärkt betroffen.
Für mich stellt sich hier auch die Frage, ob ich mir selbst überhaupt Grenzen zugestehen kann. Ist es in Ordnung, Grenzen zu haben? Darf ich diese Grenzen mitteilen und verteidigen? Um mir selbst Grenzen zuzugestehen, braucht es einen Selbstwert. Ich bin mir selbst so wichtig und so wertvoll, dass ich für mich einstehe. Menschen, die glauben, es allen recht machen zu müssen oder die glauben, dass sie nur etwas wert sind, wenn sie viel leisten, werden große Schwierigkeiten haben, sich selbst Grenzen zugestehen.
Es ist eher wahrscheinlich, dass sie immer wieder über die eigenen Grenzen drübergehen, manchmal so lange bis sie im Burnout oder in einer Depression landen.
Die eigenen Grenzen wahrnehmen
Damit du überhaupt Grenzen setzen kannst, hilft es sie dir im ersten Schritt selber bewusst zu machen. Gehe dafür einmal in dich und überlege, in welchen bestimmten Situationen mit anderen Menschen du dich verletzt oder vor den Kopf gestoßen gefühlt hast? Wann gehen dir Dinge zu weit und wann fühlst du dich persönlich angegriffen oder ausgenutzt?
Beim Wahrnehmen der eigenen Grenzen sind unsere Gefühle wichtige Hinweisgeber. Gefühle sind im Körper spürbar. Wann macht dich das Verhalten deiner Mitmenschen dir gegenüber vielleicht wütend oder traurig?
Hinter deinen Grenzen liegen deine Bedürfnisse verborgen. Wenn du deine Bedürfnisse gut kennst, fällt es dir leichter, deine Grenzen zu erkennen.
Komfortzone
Hier bin ich sicher. Alles ist bekannt. Ich fühle mich wohl.
Lernzone
Hier kann ich lernen und wachsen. Ich begegne Herausforderungen.
Panikzone
Hier bin ich überfordert. Ich brauche Unterstützung.
Beim Wahrnehmen eigener Grenzen kann dich das Drei-Zonen-Modell unterstützen. Es wird unterteilt in Komfortzone, Lernzone und Panikzone. In der Komfortzone werden unsere Grenzen gewahrt. Wir fühlen uns sicher und wohlig. Alles ist vertraut, wir wandeln auf bekannten und gewohnten Pfaden. Die Gegenseite ist, dass es in dieser Zone langweilig und eintönig werden kann.
Da wir Menschen auch die Bedürfnisse nach Lernen, Wachstum und Entwicklung haben, zieht es uns immer wieder in die Lernzone. In der Lernzone bewegen wir uns neugierig und probieren neue Dinge aus, lernen Neues dazu und erweitern unseren Horizont. In der Lernzone fühlt es sich unsicherer an als in der Komfortzone, es braucht manchmal Mut und Entschlossenheit, dafür ist alles spannend, aufregend und inspirierend.
Wenn wir Neues ausprobieren kann es passieren, dass wir auch mal unsere Grenzen überschreiten. Daher ist es hilfreich darauf zu achten, dass wir dabei nicht in die Panikzone rutschen. In der Panikzone erleben wir das Neue und Ungewohnte als überfordernd und überrollend. Es macht uns Angst.
Grenzen klar und einfühlsam mitteilen
Es ist wichtig, dass du anderen Menschen auch mitteilst, wo deine Grenzen liegen. Das mag nicht ganz einfach sein, lohnt sich aber. Damit dein Gegenüber sich nicht persönlich angegriffen fühlt, ist es hilfreich aus deiner eigenen Perspektive heraus sprechen und ganz bei dir bleiben: Sprich aus, wie du dich in bestimmten Situationen fühlst und was ein bestimmtes Handeln der anderen Person in dir auslöst, kommuniziere deine Bedürfnisse und teile mit was du möchtest und was du nicht möchtest. So weiß die Person ganz konkret, wie sie die nächsten Male in bestimmten Situationen anders machen kann.
1. Meine Beobachtung
2. Meine Gefühle
3. Meine Bedürfnisse
4. Meine Bitten
Ich möchte dir hier gerne ein Beispiel geben. Für mich persönlich geht es in Massagen ganz klar über meine Grenzen, wenn die gebende Person so stark schwitzt, dass der Schweiß auf meinen Körper tropft. Ich liege also in der Massage und spüre wie die Schweißtropfen auf meinen Körper tropfen. Ich spüre zunächst Irritation und dann auch Ekel in mir. Mir geht es um Achtsamkeit und um Rücksichtnahme. Und ich möchte, dass die gebende Person sich den Schweiß mit einem Handtuch abwischt. Statt jetzt meinen Ekel zu verdrängen und die Massage irgendwie durchzustehen, entscheide ich mich dazu meine Grenzen, Bedürfnisse und Wünsche zu kommunizieren:
“Ich spüre, dass dein Schweiß auf meinen Körper tropft. Das ekelt mich. Mir sind Achtsamkeit und Rücksichtnahme wichtig. Kannst du bitte deinen Schweiß mit einem Handtuch abwischen und darauf achten, dass er nicht auf meinen Körper tropft?”
Verteidige deine Grenzen
Manchmal reicht es nicht eine Grenze einmalig zu setzen. Dann gilt es, deine eigenen Grenzen immer wieder klar zu kommunizieren und nicht nachzugeben. Immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wenn dir etwas zu weit geht. Das zeigt, dass dir deine Grenzen auch wirklich ernst sind. Für manche Menschen ist es vielleicht ein längerer Lernprozess, bis sie wirklich realisieren, wie sie mit dir umgehen sollen. Wenn du auf Menschen triffst, die deine Grenzen wiederholt nicht respektieren, kannst du dich entscheiden aus dem Kontakt zu gehen und dich so zu schützen.
Grenzen, die flexibel und verschiebbar sind
Manche Menschen sind sehr gut darin Nein zu den schlechten Dingen zu sagen und sie draußen zu halten, aber ihre Grenze ist eine Mauer, kein Zaun, und hält auch alles Gute draußen. Das ist wie wenn wir uns mit dicken Schutzmauern umgeben, durch die nichts mehr durchkommt. Dieser Wunsch nach Schutz ist verständlich und gleichzeitig erschwert er mir Nähe zuzulassen und Beziehungen aufzubauen. Es ist also gut, wenn du weißt wo du dich schützen möchtest und wo dieser Mauern dir helfen und wo sie eher hinderlich sind.
Jörn verwendet gerne ein Bild von Mauern oder Schutzzäunen, die man hoch und auch wieder herunter fahren kann. So kann er jederzeit selbst entscheiden, wie viel Schutz er gerade jetzt benötigt und wo er sich auch mal schutzlos und verletzlich zeigen will.
Grenzen sind also flexible und auch verschiebbar. Manche meiner Grenzen sind in einer Situation von meiner Tagesform abhängig. Andere verschieben sich durch meine Entwicklung über die Jahre. Insbesondere mit Menschen, die mir nahe stehen, hilft es über diese Veränderung bzw. Flexibilität zu sprechen. Das macht es anderen Menschen leichter, dies zu berücksichtigen und meine Grenzen zu achten.
Grenzen achten und einfühlsam hören
Nicht nur du hast Grenzen, auch andere Menschen haben Grenzen. Beim Grenzen achten geht es darum, dass du ein Gespür für die Grenzen anderer Menschen entwickelst und beim Zuhören einfühlsam die Gefühle und Bedürfnisse deines Gegenübers aufnimmst. Nicht immer teilen andere Menschen ihre Grenzen respektvoll und klar mit. Es kann auch sein, dass sie dich anschreien, zurückweisen, beschuldigen, verurteilen oder beleidigen.
Du hast die Macht, zu entscheiden, wie du das Gesagte aufnehmen willst. Du kannst entscheiden, ob du einen Angriff, eine Zurückweisung, eine Beschuldigung, eine Verurteilung oder eine Beleidigung hören willst. Oder ob du die Not hinter den Worten hören willst. Es kann sein, du hast unbewusst und ohne Absicht eine Grenzen deines Gegenübers überschritten und dein Gegenüber gerät dadurch in Not und reagiert mit Schreien, Rückzug, Gegenwehr… Dein Gegenüber reagiert so, weil ihm oder ihr gerade keine anderen Strategien zur Verfügung stehen. Weil es wichtig ist, erst einmal Schutz herzustellen. Erst wenn dieser Schutz gewährleistet ist, kann ein Gespräch wieder möglich werden.
Empathisches Zuhören hat viel mit der Bereitschaft zu tun, verstehen zu wollen, was bei meinem Gegenüber gerade los ist? Wie fühlt es sich und was braucht es? Dazu kann ich Nachfragen:
1. “Was ist gerade passiert?”
2. “Wie fühlst du dich?”
3. “Was brauchst du?”
4. “Worum möchtest du bitten?”
Kann mein Gegenüber selber gar nicht so genau wahrnehmen oder beschreiben, was los ist, kann ich auch in meinen Fragen bereits Gefühls- und Bedürfnisworte anbieten, die ich vermute.
A: “Dass ich 30 Minuten später als vereinbart gekommen bin, hat dich offensichtlich traurig gemacht, oder?” (Vermutung des Gefühls)
B: “Ja, total! Wir haben doch eh schon so wenig gemeinsame Zeit. Ich möchte doch ausführlich erfahren, wie es dir auf deiner Reise in Südamerika ergangen ist.”
A: “Das hört sich an, als ob du gerne mehr Austausch mit mir hättest?” (Vermutung des Bedürfnisses)
Auch wenn sich das vielleicht etwas komisch anhören mag, geht es hier vor allem um die Darstellung des Prinzips und der Haltung. Habe ich diese verinnerlicht, kommt es auf die genauen Worte nicht mehr so sehr an.
Unser Umgang mit Grenzen in unseren Seminaren
In unseren Seminaren ist uns ein achtsamer und respektvoller Umgang mit den Grenzen unserer Teilnehmenden besonders wichtig.
Bei allen Übungen betonen wir, dass dies Einladungen sind. Es ist wichtig, dass jeder und für sich selbst entscheidet, ob die jeweilige Übung für ihn stimmig ist. Es besteht jederzeit die Möglichkeit, zuzusehen oder sich ganz zurück zu ziehen.
Wenn du lernen möchtest, deine Grenzen wahrzunehmen, mitzuteilen und die Grenzen anderer einfühlsam zu hören laden wir dich zu unserem Einführungsseminar in die Gewaltfreie Kommunikation ein, bei dem es genau darum geht.