Wie eine sexualfeindliche Erziehung unser Leben beeinflusst

Mir sitzt eine junge Frau gegenüber. Sie ist verzweifelt und Tränen läufen ihr die Wangen hinunter. Sie erzählt mir, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht als Geschlechtsverkehr mit ihrem Freund erleben zu können. Ich frage sie, was sie daran hindert. Sie berichtet mir, dass ihr Körper einfach zu macht, sie kann sich nicht hingeben, es tut weh. Wir sprechen über ihre Kindheit und darüber was sie als Kind über Sexualität gelernt hat. Für ihre Eltern war Sexualität etwas Schmutziges, unanständiges. Sie wurde bestraft, wenn sie sich selbst berührt hat, in ihrer Pubertät wurden ihr sexuelle Kontakte verboten. Sie ist mit Sätzen aufgewachsen die in etwa so lauteten: Sex ist gefährlich. Nimm dich vor den Männern in Acht. Ein anständiges Mädchen tut so etwas nicht. Als sie dann erste sexuelle Kontakte gelebt hat, hat sie sich innerlich zerrissen gefühlt. Ein Teil in ihr wollte das erleben und hat die Berührungen genossen, doch über allem lagen die Verbote und Warnungen ihrer Eltern wie eine alles erstickende Decke. Die Folgen dieser sexualfeindlichen Erziehung sind bei ihr weitreichend. Sie lehnt ihren Körper und ihre Weiblichkeit ab. Sie hat keine Beziehung zu ihrem Genital. Sie kann Sexualität nicht genießen, die Empfindungsfähigkeit ist stark eingeschränkt. Die Verbote und Warnungen haben dazu geführt, dass ihr Körper sich schützt und zumacht. Sich öffnen, sich hingeben, fallen lassen und vertrauen klingen wie eine weit entfernte Galaxie.

Diese junge Frau ist bei weitem kein Einzelfall. Störungen der Sexualität bei Frauen sind viel häufiger als früher vermutet und es gibt eine hohe Dunkelziffer. Denn darüber redet Frau ja nicht. Die Gefühle von Scham und Unzulänglichkeit sind groß. Und es braucht viel Mut, um sich zu öffnen und mit anderen Menschen über die eigenen sexuellen Probleme zu reden oder zu einer Sexualberatung zu gehen.

Ein Bild einer sexpositiven Erziehung

Ich möchte dir mal ein Bild von einer sexpositiven und Sexualität bejahenden Erziehung zeichnen. Als kleines Kind darfst du nackt herumlaufen und deinen Körper entdecken und erkunden. Dabei wirst du ermutigt und deine Geschlechtsteile werden benannt und bekommen Namen. Du darfst Doktorspiele machen und erkundest neugierig deinen Körper. Deine Eltern sprechen mit dir offen über Sexualität und beantworten deine Fragen kindgerecht. Du bekommst mit, dass deine Eltern Sexualität leben und dass sie Freude daran haben. Auch im Alltag berühren deine Eltern sich untereinander und auch mit dir gehen sie in einen liebevollen Körperkontakt. Sie respektieren deine Grenzen. Wenn du Nein sagst oder etwas nicht möchtest, ist das in Ordnung. In deiner Pubertät begrüßen sie es, dass du dich zur Frau oder zum Mann entwickelst. Deine erste Periode wird gefeiert. Deine Eltern sprechen mit dir über Verhütung und sexuell übertragbare Krankheiten. Deine Mutter begleitet dich auch gerne zur Gynokologin oder zum Gynokologen. Sie geben dir den Freiraum, um erste sexuelle Erfahrungen zu machen. Wenn du dein Zimmer abschließt wird das respektiert. Freude oder Freundinnen darfst du auch mit nach Hause bringen und sie werden freundlich empfangen. Deine Mutter spricht mit dir über ihr Frausein bzw. dein Vater über sein Mannsein. Es gibt Bücher und Zeitschriften, die zugänglich für dich sind und deine Eltern geben dir Links zu hilfreichen Aufklärungsseiten im Internet. Sie sprechen auch mit dir über die Gefahren des Internets und über Pornografie. Deine Eltern respektieren deine sexuelle Orientierung und begegnen deiner Sexualität, so wie du sie leben möchtest, mit Akzeptanz.

Hast du das so in deiner Kindheit erlebt? Das haben wohl die wenigsten von uns. Dabei bildet eine erfüllend gelebte Sexualität einen wichtigen Grundstein für unsere Gesundheit und für ein positives Lebensgefühl.

Als sexuelles Wesen abgelehnt

Besonders die ersten sechs Lebensjahre haben einen entscheidenen  Einfluss auf unser ganzes späteres Sexleben als Erwachsene. In diesen ersten Jahren  werden Kinder sich ihrer Geschlechtlichkeit bewusst, entwickeln erste sinnliche und erotische Gefühle und beginnen ihren Körper zu entdecken. Wenn sie dabei ermutigt werden, entwickeln sie eine Beziehung zu ihrem Körper und ihrem Genital. Wenn Eltern diese körperlichen Erkundungen jedoch verbieten, beginnt das Kind sich für seinen eigenen Körper und für sein Genital zu schämen. Folglich schneidet das Kind sich von diesen Empfindungen ab, lässt sie nicht zu und verbannt sie weit weg in sein Inneres. Wo sie oft ein Leben lang bleiben.

Es fühlt sich als sexuelles Wesen abgelehnt und entwickelt daraus die Schlussfolgerung: Ich darf kein sexuelles Wesen sein. Meine Lust ist falsch. Ich bin sündig, weil ich diese Empfindungen habe.

Neulich hatte ich eine ältere Frau in der Beratung. frisch getrennt nach einer langjährigen Ehe mit unbefriedigendem Sex. Sie erzählte mit, dass sie spürt, dass es da diese sexuelle Kraft in ihr gibt und dass die Sehnsucht in ihr immer größer wird, mit dieser sexuellen Kraft verbunden zu sein. Gegenüber mit konnte sie den Satz laut aussprechen: Ich möchte eine erfüllende tiefgehende Sexualität leben. Das war der Beginn einer spannenden Erkundungsreise.

Wenn Kinder von ihren Eltern auch als sinnliches Wesen wahrgenommen werden und in ihrer Geschlechtlichkeit gesehen werden, lernen sie dass Sexualität ein Ausdruck von Liebe und Intimität ist.

Eine alles überschattende Scham

Die Liste der Dinge, für die sich die Frauen schämen, die zu mir in die Beratung kommen, ist lang. Angefangen beim eigenen Körper, den sie ablehnen, dem Genital, das hässlich aussieht und riecht, der eigenen Lust, die verurteilt wird und nicht sein darf, dem sexuellen Begehren, das zuviel ist, den sexuellen Wüschen, die nicht mitgeteilt werden, der Lust auf fremde Haut, die nicht sein darf …und, und, und.

 

Hinter all diesen Aussagen steht die Botschaft: Ich bin nicht ok, so wie ich bin. Ich muss anders sein. Und diese Botschaften lernen wir früh in unserer Kindheit. Durftest du als Kind wild, laut und ausgelassen sein? Durftest du deine Bedürfnisse mitteilen, wurde dein Nein respektiert? Durftest du wütend sein und deine Autonomie leben?

Der Weg raus aus der Scham führt über eine liebevolle Beziehung zu uns selbst. Und diese Beziehung zu uns selbst wurde uns nicht beigebracht. Wir haben gelernt uns um die anderen zu kümmern, die Bedürfnisse unserer Mitmenschen im Auge zu haben. Eher noch verbunden mit Sätzen wie: Sei nicht so egoistisch. Nimm dich selbst nicht so ernst. Was du willst, ist nicht wichtig. Eine schlechte Basis, um sich selbst gut zu spüren und Sexualität selbstbestimmt zu leben.

Zudem ist die Geschichte des weiblichen Intimbereichs eine Geschichte der Scham. Sieht du deine Yoni eher als Schambereich oder als Lustquelle? Hat deine Mutter mit dir über deine Yoni geredet, liebevoll und wertschätzend? In den meisten Elternhäusern gab es noch nicht einmal eine Bezeichnung für diese Region, allenfalls “unten rum”. Und unten rum ist schmutzig, ist eklig, das fasst man nicht an, im besten Falle vielleicht noch mit dem Waschlappen zum Waschen.

Wie soll ein Mädchen eine wertschätzende Beziehung zu ihrer Yoni aufbauen, wenn sie solche Botschaften mitbekommt, wenn die Scham alles andere erstickt?

Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe

Ebenfalls sehr prägend für ein Kind ist es, wenn es in der Kindheit sexuelle Übergriffe durch Erwachsene erlebt. Sexuelle Gewalt beginnt da, wo ein Erwachsener seine sexuelle Energie auf ein Kind richtet oder es dieser aussetzt, zum Beispiel durch Pornografie. Oft geben Kinder sich selbst die Schuld an dem, was geschehen ist. Sie fühlen sich mit dem Geschehen alleine gelassen. Sehr häufig wird ihnen nicht geglaubt und das Geschehen wird baggatellisiert. Da Übergriffe oft durch nahe Bezugspersonen erfolgen, lernt das Kind, dass es Sexualität für Liebe geben muss. Das macht es ihm später schwer, eigene Grenzen zu setzen, zu vertrauen und Nein zu sagen.

Glaubenssätze, die uns mitgegeben wurden

Was haben deine Eltern über Sexualität geglaubt? Wie haben sie über Seualität gesprochen? Welche Sätze hast du als Kind zu hören bekommen. Ich möchte im folgenden einige Sätze auflisten, die ich von Klientinnen in meiner Beratung gehört habe:

Sexualität ist gefährlich. Männer wollen immer nur das Eine. Als Frau hast du den Mann zu bedienen. Kein Sex vor der Ehe. Wenn du schwanger wirst, bist du nicht mehr unsere Tochter. Frauen, die Spaß am Sex haben sind Schlampen. Sexualität ist schmutzig. 

Sexualität dient der Fortpflanzung – sonst nichts.  Über Sexualität spricht man nicht. Die Frau hat beim Sex still und fügsam zu sein. Von Selbstbefriedigung kannst du krank werden. Fass das nicht an – du machst das sonst kaputt. Wenn du dich da unten berührst, dann weint der liebe Gott.

Ich denke, diese Sammlung reicht, um einen Eindruck davon zu gewinnen, wie unbewusste Glaubenssätze in unserem Körpersystem wirken. Diese Sätze sind in unseren Körpern gespeichert in Form von Schmerzpunkten, Verspannungen, Verhärtungen. Sie zeigen sich in unserer Atmung, in unserer Körperhaltung, im Bewegungsraum, den wir einnehmen, in unserer Stimme, in unserer Beckenbodenspannung, in unserer Mimik … Heute als erwachsene Menschen können wir uns dieser Glaubenssätze bewusst werden und uns fragen, ob wir diese wirklich weiter glauben möchten oder ob wir neue Glaubenssätze entwickeln möchten. In der sexologischen Körperarbeit setzen wir hier beim Körper an. Wir beobachten, was uns der Körper zeigt und laden ein, Dinge zu verändern. Da unser Kopf und unser Körper in einer Wechselwirkung zueinander stehen, verändern wir über den Körper auch unser Denken.

Weitreichende Folgen für dein Erwachsenenleben

Erst als ich begann mich tiefgehender mit Sexualität zu beschäftigen wurden mir die weitreichenden Folgen einer jahrhunderte währenden schambesetzten und sexualfeindlichen Erziehung bewusst und ich begann die Tragweite zu erfassen. Ich habe mit vielen Frauen in meiner Praxis über ihre sexuelle Geschichte gesprochen und es zeigten sich die unterschiedlichen Folgen dieser suxualfeindlichen Erziehung.

Allem voran möchte ich hier den Mangel bzw. Verlust von Lust an Sexualität nennen. Wie soll jemand Lust an etwas finden, dass einem als verboten, schmutzig, unanständig oder verabscheuenswürdig verkauft wird? Diese Folge kann bis hin zur völligen Abneigung gegen sexuelle Kontakte (sexuelle Aversion) führen.

Ebenfalls weit verbreitet ist eine eingeschränkte Empfindungsfähigkeit in der Vagina. Viele Frauen erleben Geschlechtsverkehr nicht als erfüllend, lassen es halt über sich ergehen. Damit sich tiefgehende Empfindungen einstellen können, braucht es eine Beziehung zur eigenen Vagina, eine Kenntnis des eigenen vaginalen Innenraums, eine Erforschung, wie sich welche Berührungen wo anfühlen und ein wiederholtes Üben. Und es braucht die innere Erlaubnis, dass ich Lust empfinden darf und dass ich Sexualität genießen darf.

Eng damit verbunden sind Schwierigkeiten bzw. die Unfähigkeit, einen Orgasmus zu erleben. Ein Orgasmus ist ein Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung im Körper. Am Ende braucht es ein völliges Loslassen, ein sich hingeben, ein geschehen lassen. Dass eine Erziehung, die darauf abzielt, dass ich lieb, still, anständig, angepasst und ruhig bin, dies nicht gerade unterstützt, liegt auf der Hand.

Eine stark ausgeprägte sexualfeindliche Erziehung kann auch dazu führen, dass der Körper ganz zumacht und sich für Sexualität verschließt. Die Folgen können Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder sogar die Unfähigkeit, einen “normalen” vaginalen Geschlechtsverkehr durchzuführen sein.

Sexualität ist neu lernbar

Deine Sexualität, so wie du sie aktuell lebst, wie du darüber denkst, wie du sie bewertest, wwie du sie empfindest – das alles hast du gelernt. Wir kommen nicht mit einer fertig ausgebildeten Sexualität auf die Welt. Sexualität lernen wir.

 

Die gute Botschaft ist, dass wir Sexualität als Erwachsene neu lernen können, wir können umlernen und somit unsere Sexualität auch neu leben. Wir können die Beziehung zu unseren Körpern neu gestalten und wir können Berührung und Selbstberührung neu lernen.

Ich komme noch einmal zu der jungen Frau vom Anfang dieses Artikels zurück. Sie hat sich entschieden den Weg in die sexologische Körperarbeit mit mir zu gehen. Wir haben lange und ausführlich über ihre sexuelle Geschichte gesprochen und sie hat mehr und mehr verstanden, warum sie ihre Sexualität gerade so erlebt, wie sie sie erlebt. Sie hat gelernt, ihren Körper und ihr Genital neu zu betrachten und eine Beziehung aufzubauen. Was ihr in ihrer Pubertät nur sehr eingeschränkt möglich war, hat sie nun nachgeholt. Sie hat begonnen ihren Körper zu erkunden, sich selbst zu berühren. Da hat sie erstmals erfahren, wie es sich anfühlt ein sexuelles Wesen zu sein, sich attraktiv und sexy zu fühlen. Wir haben uns in vielen Yonimassagesitzungen an intime Berührungen herangetastet und dabei ist viel Schmerz hochgekommen, der erstmals Raum haben durfte. Nach und nach hat sich die Empfindungsfähigkeit erhöht und es war wieder möglich die eigene Lebendigkeit zu spüren. Neben dem neu entwickelten körperlichen Erleben haben sich neue Glaubenssätze gebildet: Ich darf ein sexuelles Wesen sein. Es ist mein Grundrecht, eine erfüllende Sexualität zu leben. Ich bin eine attraktive Frau und ich achte und ehre meinen Körper. Ich darf mich sexuell ausdrücken, ich darf wild und laut sein. Meine Sexualität gehört nur mir. Am Ende unser gemeinsamen Reise sitzt mir diese junge Frau wieder mit Tränen in den Augen gegenüber. Aber dieses Mal sind es Freudentränen, die eine tiefe Dankbarkeit und Berührtheit ausdrücken, für die es keine Worte gibt.

Ein geschützter Lernraum für Erwachsene

Hast du Lust bekommen, deine Sexualität nue zu lernen, deinen Körper neu zu erforschen und deine Sexualität erfüllender und tiefgehender zu leben?

Dann komm zu unserem Seminar “Sexualität lebendig und lustvoll leben”. Wir kreieren einen geschützten Lernraum für Erwachsene.Wir vermittelt Wissen rund um Anatomie und Sexualität, unterstützen dich deine kommunikativen Fähigkeiten zu erweitern und offen über deine Sexualität zu sprechen und deinen Körper wieder mehr zu spüren und zu bewohnen. Die vielen Übungen aus der sexologischen Körperarbeit einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen unterstützen dich, deine Sexualität zu reflektieren, Klarheit zu gewinnen, deinen Körper besser kennen zu lernen und neue Wege in deiner Sexualität einzuschlagen.

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