Gerade lese ich ein Buch, das um den ersten Weltkrieg herum spielt. Darin werden die Gedanken einer heranwachsenden Frau wiedergegeben. Sie fragt sich, was wohl das Geheimnisvolle ist, das sich zwischen Mann und Frau in der Hochzeitsnacht ereignet. Sie hat zwar ihre Theorien, aber sie weiß es einfach nicht und sie weiß auch niemanden, den sie dazu fragen könnte. Jetzt, gerade mal hundert Jahre später, ist Aufklärung eine Selbstverständlichkeit und das Thema Sexualität in den Lehrplänen der Schulen verankert.
Und dennoch sind wir noch weit entfernt von einer Gesellschaft, in der Sexpositivität eine Selbstverständlichkeit ist und in der jeder mit jedem offen über Sexualität sprechen kann.
Denk doch mal darüber nach, wie offen du mit Freunden, Bekannten, Verwandten oder deinem Partner/deiner Partnerin über Sexualität sprichst. Wie sehr öffnest und zeigst du dich? Sind da schambehaftete Gedanken? Wie authentisch bist du? Wie gut kennst du dich selbst im Bezug auf deine Seualität?
Die eigene Sexualität kennen lernen
Sexualität beginnt bei der Sexualität mit mir selbst. Denn vor dem über Sexualität sprechen können steht die Wahrnehmung dessen, was in meinem Körper passiert, welche Gedanken und Gefühle ausgelöst werden und welche Bedürfnisse erfüllt oder unerfüllt sind. Dabei spielt die Sexualität sich auf verschiedenen Ebenen ab, die jeweils einen Anlass für Gesprächsstoff bieten können.
Ebenen Der Sexualität
- Die Körperebene: sexuelle Funktionalität, Atem, Spannung, Rhythmus, Bewegung
- Die Erlebensebene: Empfindungen, Gefühle, Bedürfnisse, Körperzuhause
- Die mentale Ebene: Gedanken, Glaubenssätze, Wissen
- Die sexuelle Geschichte: Muster, Prägungen, Vorerfahrungen
- Die Beziehungsebene: Nähe und Distanz, Kommunikation, Konfliktverhalten, Bindungsverhalten
Je besser ich diese einzelnen Ebenen bei mir selbst wahrnehme, desto besser kann ich sie auch kommunizieren. Alle Ebenen zusammen machen meine sexuelle Persönlichkeit aus. Nun kommt die spannende Frage: Inwiefern bin ich bereit, meine sexuelle Persönlichkeit mit anderen Menschen zu teilen?
Gespräche unter Freundinnen
Traust du dich, mit deinen Freundinnen oder Freunden offen über deine Sexualität zu reden? Oder ist Sexualität für dich etwas, worüber du nicht sprechen willst? Ich war irgendwann an einem Punkt, wo die Neigierde größer war als die Scham und die Zurückhaltung. Ich habe begonnen, meine Freundinnen zu fragen, wie sie ihre Sexualität erleben, ob sie beim Geschlechtsverkehr zum Orgasmus kommen, wie häufig sie Sex haben, wie es ihnen in der empfangenden Rolle geht, was sie schon ausprobiert haben und mögen und was nicht und was sie unbedingt mal ausprobieren möchten. Im Großen und Ganzen habe ich eine große Bereitschaft erlebt, über Sexualität zu sprechen. Viele waren erleichtert, berührt und dankbar für diesen mutigen Schritt von mir. Ich habe Sätze gehört wie: “Da habe ich bisher mit niemandem drüber geredet”, “Ich bin erleichtert, dass es dir genauso geht” oder “Jetzt weiß ich, dass ich normal bin, dass nichts an mir falsch ist”. Diese Sätze haben mich sehr berührt und ich habe mich gefragt, warum es nicht selbstverständlich ist, über Sexualität zu reden. Was hält uns ab? Was lässt uns zögern? Wovor haben wir Angst?
Eine jahrtausende währende Prägung
Wir haben eine jahrtausende währende negative Prägung im Bezug auf Sexualität im Rucksack unserer sexuellen Geschichte. Frauen durften nicht lustvoll sein, Sexualität diente der Fortpflanzung, sexuelle Erlebnisse mit mehreren Partnern war tabuisiert, Selbstbefriedigung galt als Krankheit, der weibliche Intimbereich “unten rum” als schmutizg und eklig, schambesetzt eben. Überwiegend fand kein entspannter, entkrampfter, positiver Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität statt, es herrschte eine körper- bzw. sexfeindliche Grundstimmung. Es war nicht möglich, offen über Sexualität zu reden und Fragen zu stellen, also orientiere man sich an Rollenbildern und Klischees, an Normen und Mythen, die vorzeigen, wie Beziehungen und Sex zu sein hätten. Diese negative Prägung wirkt bis heute in unserem kollektiven Bewusstsein.
Überleg doch mal wie das bei dir ist. Welche Erfahrungen und Prägungen kommen in deiner sexuellen Geschichte vor? Wie bist du aufgeklärt worden? Wie war dein erstes Mal? Hast du dich selbst befriedigt und deinen Körper erkundet? Welche Gedanken prägen dein Männerbild im Bezug auf Sexualität? Kannst du deinen Körper so lieben und annehmen wie er ist? Fühlst du dich in deinem Körper und in deinem Geschlecht zu Hause? Bist du stolz darauf eine Frau oder ein Mann zu sein? Genießt du deine Sexualität? Lebst du sie selbstbestimmt, lebendig und lustvoll? Oder gibt es da Glaubenssätze, Prägungen, Denk- und Verhaltensmuster, die dich zurückhalten, dein volles erotisches Potential zu leben und dich offen über Sexualität auszutauschen?
In der Partnerschaft über Sexualität reden
Unsere sexuelle Geschichte und unsere gesamte sexuelle Persönlichkeit spielen besonders auf der Beziehungsebene eine entscheidende Rolle. Neben den persönlichen Mustern und Prägungen, die jeder in die Beziehung mitgebracht hat, entstehen im Laufe der Jahre Paardynamiken, die die Beziehung prägen und in großem Maße unser Erleben bestimmen oder gar lähmen oder blockieren.
Wenn es einem Paar gelingt, diese Muster und Dynamiken zu erkennen und miteinander darüber zu reden, ist eine gemeinsame Weiterentwicklung möglich. Dann kann die Partnerschaft ein Wachstumsbeschleuniger sein. Für viele Paare ist es hilfreich, sich auf diesem gemeinsamen Entwicklungsweg Inpulse und Unterstützung von außen zu holen.
Wenn zwei Menschen Sexualität miteinander leben, treffen zwei sexuelle Persönlichkeiten aufeinander. Nun geht es zum einen darum, eine gemeinsame sexuelle Schnittmenge zu finden: Was gefällt uns beiden? Welche Berührungen mögen wir? Was möchten wir zusammen ausprobieren? Wofür sind wir offen? Wichtig ist es über die Jahre nicht in dieser gemeinsamen Schnittmenge, einer gemütlich eingerichteten sexuellen Komfortzone, hängen zu bleiben. Sondern stattdessen miteinander immer wieder über Sexualität zu reden und die Unterschiede herauszufinden: Welche Fantasien haben wir? Was möchte jeder einzelne unbedingt mal ausprobieren? Welche verborgenen Wünche gibt es? Wie genau möchte jeder einzelne berührt werden? Was erregt uns? Was törnt uns ab? Was lieben wir am gemeinsamen Sex, was finden wir langweilig? Wo wünschen wir uns Veränderung? Das kostet Mut. Aber es lohnt sich. Von unserem Weg Sexualität abseits der Norm zu leben, kannst du hier mehr lesen. Oder du hörst dir unseren Podcast zu GFK und Tantra an, in dem wir auch über unsere offene Beziehung sprechen.
Über den sexuellen Telleerand schauen
Um so offen miteinander reden zu können ist es hilfreich, immer wieder auch mal über den sexuellen Tellerrand hinaus zu blicken. Wie leben andere Menschen ihre Sexualität? Wie gehen wir damit um, wenn wir mehr als “normalen Sex” haben möchten? Wenn einer von beiden oder beide Kink ausprobieren möchten? Der Begriff Kink bezeichnet sämtliche alternativen Vorlieben, die vom gängigen Blümchen- oder Vanilla-Sex abweichen, wie z.B. BDSM, Rollenspiele oder auch Spanking. Ist es denkbar, dass wir uns sexuell für andere Menschen öffnen, in Swingerclubs gehen oder Sex zu dritt oder zu viert haben oder gar eine offene oder polyamore Beziehung leben? Über solche Themen miteinander zu reden, setzt eine Offenheit, eine Nicht-Wertung, Toleranz und Akzeptanz voraus.
Impulse um über Sexualität zu reden
Sexualität ist oft ein “heißes Eisen”, ein minenfeldbesetztes Thema. Ein Thema, bei dem ich mich zeige, nackt mache, verletzlich mache. Daher ist es wichtig, dass Paare, die offen über Sexualität sprechen möchten, sich vorher in ihrer Partnerschaft eine stabile kommunikative Basis erarbeiten. Dazu ist es hilfreich, sich gewisse kommunikative Kompetenzen aneignen und mit einer hilfreichen inneren Haltung ins Gespräch gehen. Sonst kann so ein Gespräch für noch mehr Distanz und Konfliktstoff sorgen.
Mögliche Gesprächsimpulse
Was bedeutet Sexualität für mich?
Welchen Stellenwert hat Sexualität in meinem Leben?
Wie erlebe ich unsere Sexualität?
Wozu habe ich Sex, welche Bedürfnisse erfülle ich mir damit?
Welche Gefühle habe ich beim Sex?
Sinnvoll ist ein Gesprächsrahmen, wie beim Zwiegespräch, bei dem einer erzählt und der andere aufmerksam und still zuhört. Nach einer vorher verabredeten Zeit werden die Rollen getauscht. Das kann im Verlauf des Gesprächs auch mehrmals passieren.
Die Vision einer offenen, sexpositiven Welt
Wir, Jörn und Melanie, haben eine Vision von einer neuen Welt. Wir träumen von einer Welt, in der Sexualität positiv besetzt ist, in der alle offen über ihre Sexualität sprechen können. Eine Welt, in der es Normal und Unnormal oder Richtig und Falsch nicht gibt, in der jeder so da sein darf und angenommen wird wie er oder sie ist. Eine Welt, in der jeder das leben kann und darf, was für ihn oder für sie stimmig ist, ohne verurteilt oder abgestempelt zu werden. Eine Welt, in der ich offen sagen kann: Ich bin bi, lebe in einer offenen Beziehung und stehe auf Kink.
Mit unseren Angeboten möchten wir zu so einer Welt beitragen. Wir teilen mit euch die Kompetenzen, die es braucht, um Beziehung und Sexualität gelingend zu leben. Wir eröffnen Räume, in denen Offenheit und Sexpositivität selbstverständlich sind. Wir glauben, wenn immer mehr Menschen in diesen kleinen Räumen positive Erfahrungen machen, dann können diese Räume größer weren, sich ausbreiten und in die Welt hinauswirken.
Wir laden dich ein, bei unserem Seminar rund um Sexualität dabei zu sein!
Unsere nächsten Seminare zu Sexualität
24.01.2025 - 26.01.2025